So war´s in Brüssel: "Was ist da passiert?“

Brüssel 14.11.2017

Das EU-Dienstleistungspaket soll den Binnenmarkt in Schwung bringen – eine Veranstaltung in Brüssel verdeutlicht: Der Ansatz birgt Risiken, mehr politischer Wille wird gebraucht.

 

Der stattliche Mann hatte sich die Beiträge seiner Vorredner auf dem Podium geduldig angehört. Als er von Moderator Markus Stock, dem Leiter des Brüsseler EU-Büros der Wirtschaftskammer Österreich dann nach seiner Einschätzung gefragt wurde, sprudelte der Frust förmlich aus ihm heraus. Michael Möschel, mittelständischer Transportunternehmer und Vizepräsident der IHK für Oberfranken Bayreuth, gehört offensichtlich zu den Leidtragenden ungelöster, sich sogar verschärfender Probleme des EU-Binnenmarkts. Seine missliche Lage teilen Tausende andere deutsche Speditionsunternehmen. Sie verlieren auf ihrem Heimatmarkt massiv Geschäft, weil etwa polnische Anbieter von großzügigen Ausnahmen vom deutschen Mindestlohn profitieren. Bedient Möschel Aufträge im benachbarten Ausland, machen ihm und seinem Unternehmen schikanöse Auflagen das Leben schwer. In Frankreich muss er beispielsweise jede Fracht einem Zustellungsbeauftragten melden. Zu den Pflichten gehören die namentliche Nennung des eingesetzten Fahrers sowie eine schriftliche Erklärung zur Zahlung des Mindestlohns. Wenn Möschel einen deutschen Fahrer in Tschechien einsetzt, muss der seinen Arbeitsvertrag in tschechischer Sprache bei sich haben. Kritisch wird es schon, wenn Möschel einen erkrankten Mann über Nacht ersetzen muss. Dann bewegt er sich schon auf illegalem Raum. Es drohen Bußgelder von mehreren Tausend Euro. Im Vollzug sind die Beamten Frankreichs und Polens kompromisslos. Bei kleinsten Verstößen wird der Lkw bis zur Zahlung des Bußgeldes stillgelegt. Nichts tut einem Spediteur mehr weh.

„Die Bedingungen sind heute schlechter als 1991“

„Wir können unsere Dienstleistung eigentlich nicht mehr anbieten. Die Bedingungen sind heute schlechter als 1991. Da muss man sich schon fragen: Was ist da passiert?“, kritisierte der Unternehmer – und lieferte die Antwort gleich mit. Der EU-Binnenmarkt leide unter „Protektionismus pur“. Die Missstände würden von EU-Kommission wohlwollend geduldet. Nach Möschels Beitrag herrschte erst einmal Ruhe im vollbesetzten Saal der bayerischen Landesvertretung in Brüssel. Der Unternehmer hatte sehr anschaulich gemacht, um was es eigentlich ging bei der Veranstaltung „Dienstleistungsverkehr im Binnenmarkt: Wie viel Bürokratie braucht ein fairer Wettbewerb?“ am 9. November. Bayerische IHKs, das Enterprise Europe Network (EEN), die EU-Kommission und die WKÖ hatten dazu geladen. Unterstützt wurde das Ganze vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) und der Handwerkskammer für München und Oberbayern. Und schon Möschels Beitrag zeigte: Der Aufwand hat sich gelohnt. Manfred Gößl, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der IHK für München und Oberbayern, betonte, die Veranstalter wollten mit dieser Diskussion zu einer besseren Balance zwischen der Freiheit im Binnenmarkt und legitimer Regulierung der Mitgliedstaaten beitragen. Was einfach klingt, ist in der Umsetzung unendlich schwer. Mit weiterem Stillstand will sich die Wirtschaft nicht begnügen. „Unsere Unternehmen wollen Erleichterungen“, machte Gößl klar.

Europaparlamentarier Andreas Schwab (CDU/EVP) erklärte, wie dringlich solche Fortschritte für die gesamte Wirtschaft Europas wären. „Seit die EU 2006 die Dienstleistungsrichtlinie verabschiedet hat, hat sich der EU-Binnenmarkt trotz einer stetig wachsenden Zahl von Serviceanbietern zusehends schwächer entwickelt. Das ist ein Armutszeugnis“, kritisierte Schwab. Er berichtete von frustrierten Firmen und Handwerksbetrieben an der Grenze zur Frankreich, die es nicht schafften, im Nachbarland ins Geschäft zu kommen. Lothar Semper, Chef der Münchner Handwerkskammer, warnte vor den politischen Folgen. Wenn sich Handwerker von der EU in erster Linie gegängelt fühlen, dürfe sich keiner wundern, wenn die sich komplett von der Politik und der europäischen Idee abwenden.

Brüssel will den Nationalstaaten genauer auf die Finger schauen

Die Probleme werden von der EU-Kommission deutlich gesehen. Im Januar 2017 hat Brüssel ein Dienstleistungspaket auf den Weg gebracht, das dem Binnenmarkt neuen Schwung verleihen soll. Dieses Paket besteht, vereinfacht gesprochen, aus zwei Dingen: Der Elektronischen Europäischen Dienstleistungskarte (EED) und einer stärkeren Brüsseler Kontrolle nationaler Regulierungen. Neue Melde- und Prüfverfahren sollen verhindern, dass Mitgliedsstaaten mit Zulassungstricks und Genehmigungshürden die eigenen Dienstleister vor Konkurrenz aus den Nachbarländern zu schützen. Die EED soll als eine Art Gütesiegel die Türen ins Nachbarland schnell öffnen mit den Signalen „ich bin sauber, zahle den Mindestlohn. Meine Dienstleistungsqualität untergräbt nicht die Mindeststandards des Umwelt- und Verbraucherschutzes“. Mit diesem Vorstoß bewegt sich die Kommission auf vermintes Gelände. Hubert Gambs, bei der Kommission verantwortlich für die Modernisierung des Binnenmarkts, konnte auf dem Podium nicht erklären, wie dieses Paket im Detail umgesetzt werden soll. Er dankte Gößl für dessen „motivierenden Worte“ und den bayerischen Wirtschaftskammern für die Einrichtung des Dienstleistungskompasses, einer Online-Plattform, die Dienstleister über alle Fragen der Mitarbeiterentsendung informiert.

Für die Masse der Betriebe ist die Entsendung die zentrale Frage

Schwab und Gößl betonten übereinstimmend, welche Bedeutung das Thema Mitarbeiterentsendung hat. Grund: Neben Soloselbständigen machen Betriebe mit 10 bis 20 Mitarbeitern die Masse der Dienstleister aus. Sie sind zu klein, um nach ersten Aufträgen im Nachbarland dort eine Niederlassung zu gründen und dort neue Mitarbeiter einzustellen. Gößl findet daher die Idee des Dienstleistungsausweises gut. Er nannte auf der Brüsseler Veranstaltung aber auch die Risiken. Ein zu großer bürokratischer Aufwand, die Einrichtung einer neuen Genehmigungsbehörde, die Einführung des „Herkunftslandprinzips durch die Hintertür“ – all das könnte zum Scheitern führen. Gößl schlug daher vor, die EED in einem Pilotprojekt zwischen zwei benachbarten Regionen zu testen, bevor man sie verbindlich einführt. Wie viel von dem übrigen EU-Dienstleistungspaket nach ersten politischen Widerständen übrig bleibt, ist völlig offen. Bayerns Staatsregierung hat schon mal ein Veto eingereicht. Die Länder Osteuropas wehren sich mit aller Kraft gegen jede weitere Einmischung Brüssels in die nationale Gesetzgebung. Sie nutzen niedrige Löhne und Sozialstandards als Wettbewerbsvorteil. Walter Neubauer vom österreichischen Arbeitsministerium („Wir sind keine durchgeknallten Beamten“) argumentierte daher, man sei etwa mit einem „Lohn- und Sozialdumpingbekämpfungsgesetz“ zu Gegenmaßnahmen gezwungen. Schönreden wollte er nichts. Man habe einen „Wust von Papieren“ produziert, in der Anfangsphase bis zu 400.000 Meldungen jährlich. Gemeinsam mit Bayern habe man das Melde-Verfahren zumindest entschlackt.

 

Belgien hat als einiger EU-Staat verlässliche Daten über seine Dienstleister

Mit einem offenen Binnenmarkt hat das erschreckend wenig zu tun. Der Politiker Schwab warf auf dem Podium den Kommissionsmann Gambs vor, „die Kommission hat die Hosen voll“. Prof. Gabriel Felbermayr, Leiter des ifo Zentrums für Außenwirtschaft, nahm Gambs in Schutz mit dem Hinweis auf strategische Fehler auch der Bundesregierung. Die Kanzlerin setzt sich in Brüssel bekanntlich stark für die Interessen der Industrie ein. Im Gegenzug verzichtet Berlin darauf, stärker für Chancen der eigenen Dienstleister zu kämpfen, weil man das für weniger wichtig hält. Die Folge: Deutschland ist nach OECD-Maßstäben für Dienstleister aus dem Ausland ein relativ offener Markt, ist aber umgeben von harten „Abschottern“. Felbermayr belegte mit beeindruckenden Zahlen, weshalb die Politik die volkswirtschaftliche Bedeutung der Dienstleistungen fahrlässig unterschätzt. Schon die Hälfte der gesamten Wertschöpfung des deutschen Exportgeschäfts machen Dienstleistungen aus. Felbermayr warnte dringend davor, nicht nur auf die Industriepolitik zu fokussieren. Dieser Kurs habe auch zum Brexit beigetragen. Typisch für die Misere: Belgien ist das einzige Land Europas, das über aussagekräftige Daten seiner Dienstleister verfügt. Die Zahlen lesen sich dramatisch. Weniger als 1 Prozent der Firmen ist aber nur wegen der vielen Barrieren grenzüberschreitend aktiv. Auch der Autoindustrie-Großmacht Deutschland täte eine wirklich Öffnung es EU-Dienstleistungsmarkts gut. Felbermayr bezifferte die mögliche zusätzliche Wertschöpfung mit 10 bis 30 Milliarden Euro. Für den ifo-Fachmann ist die Umsetzung des EU-Dienstleistungspakts auch entscheidend für die Frage, wie es mit dem Projekt Europa insgesamt weitergeht. „Der Klebstoff, der den Binnenmarkt zusammenhält, ist deutlich dünner geworden“, warnte er in der bayerischen Landesvertretung.